Nutztierethische Fragestellungen

Vortrag von Dr.med. Walter Neussel zur 5. Verleihung des Peter-Singer-Preises am 29.06.2019 in Berlin:

Nutztierethische Fragestellungen –
ein Tabuthema für Ethikräte?

Ethikräte haben den Auftrag, neben der Informierung der Öffentlichkeit auch Stellungnahmen und Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln zu erarbeiten. Würden sich Ethikräte also grundlegend mit Fragen der Nutztierhaltung befassen (was bisher praktisch in keinem Land der Erde der Fall ist), könnten sie Vorschläge wie den auf der Basis des vom BMEL in Auftrag gegebenen Gutachtens von 2015  „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“ ausarbeiten, die wiederum maßgeblich für eine zukünftige Gesetzgebung sein könnten. Etwa 80% der deutschen Bevölkerung  wünschen  ja einen verbesserten Tierschutz in der Nutztierhaltung.

Ich habe deshalb ein dementsprechendes Schreiben, welches von Herrn Prof. Ben Moore (Direktor des Zentrums für Theoretische Astrophysik und Kosmologie als Nachfolger auf dem  Lehrstuhl von Albert Einstein in Zürich) und Herrn Steve Wise, dem Gründer und Präsidenten des „Nonhuman Rights Project“ mitgetragen wird, an die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, den Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, das Nuffield Council on Bioethics in Großbritannien, den Vorsitzenden der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außenhumanbereich sowie einzelne Mitglieder  von Ethikräten gesandt.

Der Text des Schreibens lautet:

„Die industrielle Nutztierproduktion hat sich nach dem 2.Weltkrieg immer einseitiger in Richtung Rationalisierung und Gewinnmaximierung entwickelt, wobei das Wohlbefinden  der betroffenen Tiere weitgehend unberücksichtigt blieb. Qualzucht und Qualhaltung für eine Vielzahl der 56 Milliarden Schlachttiere pro Jahr weltweit sind zu einem Problembereich geworden, dessen extreme Auswüchse von der Mehrzahl empathisch empfindender Mitbürger abgelehnt werden und die dringend außer einer ökonomischen Betrachtungsweise auch einer tierethischen Würdigung bedürfen. Der in der Anlage beigefügte Appell erläutert diesen Aspekt.

Wir appellieren an diejenigen Ethikräte, die sich lediglich mit forschungsrelevanten humanethischen und tierethischen Fragestellungen befassen, zusätzlich auch nutztierethische Themen in ihren Aufgabenbereich aufzunehmen oder sich in ihrem Einflussgebiet für eine zusätzlichen dementsprechenden Ethikrat einzusetzen.“

Als Anlage zu diesem Schreiben hatte ich den Wortlaut eines Kampagnentextes gegen Qualzucht und Qualhaltung beigefügt, den ich zusammen mit anderen Unterzeichnern initiiert hatte. Dieser Text lautet:

„Die Unterzeichner rufen zur Erarbeitung einer tiergerechten Zukunftsstrategie in  der Tierzucht und Tierhaltung auf und fordern eine sofortige Beendigung der Qualzucht und Qualhaltung von Puten.  Begründung:Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft kommt in seinem Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“ von März 2015 zu dem Schluss, dass unsere derzeitige Nutztierhaltung hinsichtlich relevanter gesellschaftlicher Ziele wie Umwelt-, Tier- und Verbraucherschutz nicht zukunftsfähig ist. Deshalb fordern sie tiefgreifende Änderungen in der Nutztierhaltung, da die tägliche Praxis unserer landwirtschaftlichen Produktion in hohem Maße mit Qualzucht und Qualhaltung verbunden ist.

Unter QUALZUCHT ist die Ausübung von Zuchtmaßnahmen zu verstehen, die bei den betroffenen Tieren zu unzumutbaren Schmerzen, Leiden, Gesundheitsschäden und Verhaltensstörungen führt. Das Leid der Tiere aus wirtschaftlichen und gewinnorientierten Interessen zu fördern, heißt, einen ethisch nicht verantwortbaren Zustand billigend in Kauf zu nehmen. Nach §11b des Deutschen Tierschutzgesetzes ist Qualzucht verboten; in der Praxis wird diese gesetzliche Bestimmung jedoch mangelhaft umgesetzt und in der Rechtsprechung viel zu tierhalterfreundlich ausgelegt.

Unter QUALHALTUNG ist eine  Tierhaltung zu verstehen, die bei den betroffenen Tieren zu Dauerstress führt, der erzeugt wird durch zu hohe Besatzdichten, lebenslanges Dahinvegetieren im eigenen Kot, Aufwachsen in geschlossenen Hallen ohne Freilandzugang sowie durch Verstümmelungen und Verhinderung artgerechten Verhaltens. Eine solche Qualhaltung  wird durch Rechtsverordnungen ermöglicht, die das bestehende Tierschutzrecht bewusst unterlaufen und Produktionskrankheiten billigend in Kauf nehmen. Sie wird auch deshalb in erschreckendem Ausmaß toleriert, weil klare Definitionen fehlen, wann Tierzucht zu Qualzucht und Tierhaltung zu Qualhaltung werden.

Dementsprechend müssen vom Gesetzgeber unbedingt und ohne weiteren Verzug – wie von veterinärmedizinischer Seite seit langem gefordert – verbindliche Parameter erarbeitet werden, an denen sich Züchter und Vollzugsbehörden orientieren können. Das Ausmaß zumutbarer Einschränkungen muss von züchtungs- und haltungsbedingten unzumutbaren Schädigungen, Schmerzen und Leiden abgegrenzt werden. Der institutionalisierte Rechtsbruch mit systemimmanenter Tierquälerei muss ein Ende finden.

Besonders eklatant sind die Missstände hinsichtlich Qualzucht und Qualhaltung in der tierindustriellen Produktion von Puten. Kaum eine Tierart hat in ihrer Entwicklung zum landwirtschaftlich genutzten Tier so viele genetische Manipulationen über sich ergehen lassen müssen und ist unter Berücksichtigung ethischer Erwägungen ungeeigneter für die industrielle Intensivhaltung als die Pute. Eine EU-Tierschutzrichtlinie für Putenhaltung gibt es nicht.“

Auf die Verlesung desübrigen Kampagnentextes verzichte ich aus Zeitgründen.        Die Unterzeichner sind: Herr Dr. Dr. Martin Balluch, Herr Dr. Mark Benecke, Frau Hiltrud Breyer, Herr Prof. Wolfgang Karnowsky, Frau Dr. Angela Küster, Herr Prof. Sievert Lorenzen, Herr Prof. Reinhard Merkel, Herr Prof. Thomas Metzinger, Herr Prof. Ben Moore und ich.

Von Seiten der Ethikräte habe ich auf dieses Schreiben ( mit einer Ausnahme ) leider keine Antwort erhalten. Warum sich diese Verantwortungsträger mit Äußerungen zurückhalten, ist nicht schwer zu verstehen. Eine Verteidigung der schrecklichen Zustände in der Massentierhaltung dürfte einem Ethiker schwerfallen. Auf in Qualzucht und in Qualhaltung dahinvegetierende Nutztiere kann man auch nicht guten Gewissens Albert Schweitzer`s berühmten Satz anwenden: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. Beispielsweise erleiden mehr als 50% der Legehennen mindestens einmal in ihrem kurzen Leben wenigstens einen schmerzhaften Knochenbruch als Folge der etablierten Qual z u c h t bedingungen . Und tatsächliche Qual h a l t u n g  ist es, weibliche Zuchtschweine über sehr lange Zeiträume nahezu bewegungsunfähig in Kastenständen zu fixieren oder Puten und Masthühner lebenslang in ihren eigenen Fäkalien ( ohne zwischenzeitliche Reinigung des Stalles ) stehen bzw. liegen zu lassen, was fast zwangsläufig zu Ballenentzündungen führt und auf Grund der dauerhaft bestehenden Ammoniakatmosphäre permanent die Schleimhäute reizt. Für diese armen, leidensfähigen Lebewesen wäre es zweifellos besser, niemals geboren worden zu sein.

Aus meiner Sicht kann man solche Auswüchse in der Nutztierhaltung  mit den Worten von Hannah Arendt nur als „Banalität des Bösen“ bezeichnen.

Ethikräte, die von staatlicher Seite mit der Bearbeitung nutztierethischer Fragestellungen beauftragt wären und den Mut zur Wahrheit aufbrächten, könnten  ihre Arbeit mit der Prüfung der  ganz wesentlichen Fragestellung beginnen, ob nicht die derzeitigen Agrarsubventionen in Höhe von 6,8 Milliarden Euro allein für deutsche Bauern umgewidmet werden sollten in dem Sinne, dass diese Gelder nicht mehr von der bewirtschafteten Fläche abhängen, sondern vom Ausmaß der von den Bauern umgesetzten  tiergerechten Verfahren. Wie wir von Herrn Prof. Isermeyer heute gehört haben, könnte eine weitere sinnvolle Maßnahme allein oder in Verbindung mit den oben genannten Umwidmungsmaßnahmen darin bestehen, dass die Mehrwertsteuervergünstigung für tierische Lebensmittel beendet wird, was weitere 5 Milliarden Euro erbringen würde.- Das Geld für eine Wende in der EU-Agrarpolitik wäre also da und Ethikräte könnten den Politikern auf die Sprünge helfen, dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung gerecht zu werden. Sie sollten sich vor dieser Verantwortung nicht drücken. Wirklich dringend gebotene Tierschutzmaßnahmen in der Nutztierhaltung dürfen kein Tabuthema für Ethikräte bleiben!

 

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