KURZVORTRAG W.N. AM 06.05.2017:
DER BERLINER APPELL GEGEN QUALZUCHT UND QUALHALTUNG
Der Peter-Singer-Preis für Strategien zur Tierleidminderung wird heute zum 3. Mal verliehen. Die Namensgebung des Preises ehrt den Mann, ohne dessen 1975 erschienenes bahnbrechendes Werk „Animal Liberation“ die moderne Tierrechtsbewegung nicht denkbar wäre. Die Begriffe „Strategien“ und „Tierleidminderung“ beinhalten unser Anliegen, die heterogenen tierrechtlichen und tierschützerischen Aktivitäten synergetisch zusammenzuführen. In diesem Kontext ist ein vereinter Kampf gegen die Qualzucht und Qualhaltung sogenannter Nutztiere der qualitativ und quantitativ wichtigste Aspekt. Jährlich wird weltweit die unvorstellbare Zahl von mehr als 60 Milliarden Nutztieren (ohne Anrechnung der weiteren ca. 85 Milliarden Meerestiere) geschlachtet; die meisten von ihnen hatten ein schreckliches Leben und viele von ihnen einen grausamen Tod. Die extreme gesetzliche Ungleichbehandlung von Mensch und Nutztier ist ein schreiendes und groteskes Unrecht. Wiederholungstäter als Lustmörder, unbarmherzige Lösegelderpresser und Massenmörder, die ihr für Menschen unwürdiges Verhalten drastisch bewiesen haben, werden unlogischerweise mit Hilfe einer „unantastbaren Menschenwürde“ von unserem Grundgesetz vor einer ihrer Tat adäquaten Strafe geschützt und bleiben oftmals nach ihrer Haftentlassung eine latente Gefahr für ihre Mitbürger. Gesetzeskonform ist es hingegen, dass unschuldige Nutztiere lebenslang gequält werden dürfen unter der bewussten Willkürdeklaration, dass ihr Leiden ein „ vernünftiger Grund“ sei, bewusst vom §1 des deutschen Tierschutzgesetzes vom 18.5.2006 abzuweichen, der lautet: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf, dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen“. Nach §11b des Tierschutzgesetzes sind Qualzuchten grundsätzlich verboten. Dass Legehennen in Intensivzucht zu ca. 50% Knochenbrüche erleiden müssen und dass auch Masthühner, Puten, Schweine, Rinder und andere Nutztiere de facto in Massentierhaltung qualgezüchtet und qualgehalten werden, ohne dass dies ehrlicherweise zugegeben oder gar juristisch geahndet wird, stellt eine Perversion unseres Rechtssystems dar, die in einem anderen juristischen Bereich undenkbar wäre. Aber welcher deutsche Bundeskanzler oder Landwirtschaftsminister, welche politische Autorität, welcher mächtige Wirtschaftslenker oder welches religiöse Oberhaupt kämpft gegen diese ethisch unhaltbare Situation? Vom derzeitigen Papst, der mit seiner Namenswahl ja wohl seine Verbundenheit mit dem geistigen Erbe von Franz von Assisi bekunden will, sollte man eigentlich mahnende Worte gegen die Exzesse der derzeitigen Nutztierhaltung an katholische Politiker erwarten. Tatsächlich ist es aber leider so, dass gerade Politiker, die sich besonders christlich geben, den Interessen der Wirtschaft absoluten Vorrang vor Menschen- und Tierschutz und vor Menschen- und Tierrechten einräumen. Wenn die Staatslenker wirklich ernsthaft motiviert wären, die widerwärtigen Folgen des weltweit vorherrschenden ungezügelten Raubtierkapitalismus gegen die Interessen der global agierenden Konzerne durchzusetzen, könnten sie gemeinsam agieren und verbindliche Richtlinien gegen die negativen kapitalistischen Systemfolgen erarbeiten und mit weltweiter Wirkung durchsetzen. Aber solche Koordinierungsversuche im Sinne einer Weltregierung gibt es nicht; denn in Wahrheit wird die Politik nicht eigenverantwortlich von den Politikern gestaltet, sondern die globalisierten Wirtschaftsgiganten bestimmen die Politik. Sie profitieren davon, dass sie aufgrund ihrer Marktmacht die einzelnen Staaten gegeneinander ausspielen können. So verhindern sie weltweit gültige Gesetze, die gegen ihre Interessen gerichtet wären, zum Schaden ärmerer Bevölkerungskreise, zum Leid ungezählter Nutztiere und zu Lasten einer nachhaltigen Umweltnutzung.
Aber welcher Handlungsspielraum verbleibt uns noch, uns, die wir im Zeitalter der quantitativ und qualitativ größten Tierquälerei leben, die es jemals in der Geschichte der Menschheit gegeben hat? Immerhin lehnen heutzutage ca. 80% der deutschsprachigen Bevölkerung die schlimmsten tierquälerischen Folgen der Intensiv- bzw. Massentierhaltung ab. Religiös begründeter Speziesismus (menschlicher Artegoismus) verliert an Boden. Und in einem wissenschaftlichen Gutachten im Auftrag von und für das Landwirtschaftsministerium (BMEL) kommen die Gutachter zu der Schlussfolgerung, dass unser derzeitiges Landwirtschaftssystem nicht zukunftsfähig ist.
Möglicherweise könnte auch schon in naher Zukunft „In-Vitro-Fleisch“ (Cultured Meat), in dessen Entwicklung auch Bill Gates und Sergey Brin investieren, zur Minderung des Leidens von Nutztieren beitragen. Inzwischen ist sogar die Entwicklung von „planzenbasiertem Fleisch“ weit vorangeschritten (Der Spiegel Nr. 8 vom 18.02.2017). Insofern gibt es auch gewisse Hoffnungsaspekte.
Im äußerst bescheidenen Rahmen unserer Preisverleihungen bemühen wir uns, wie eingangs erwähnt, Tierschützer und Tierrechtler unterschiedlicher Ausgangspositionen in der gemeinsamen Zielrichtung „Tierleidminderung“ zusammenzuführen. Beim Abendessen nach der 2.Preisverleihung wurde ein nach Vorschlag von Herrn Prof. Karnowsky als „Berliner Appell“ benannter Text erarbeitet. Er lautet: „Appell an das EU-Parlament und an die EU-Kommission, im Rahmen der Konventionen des Europäischen Rates die Begriffe „Qualzucht“ und „Qualhaltung“ verbindlich zu normieren und auf der Basis europaweit gültiger Standards alle entgegenstehenden Zucht- und Haltungsformen zu verbieten:
1. Das EP soll die Kommission auffordern, endlich den angekündigten Entwurf zur Tierschutzstrategie 2016 – 2020 vorzulegen und das Thema im Rahmen der geplanten Tierschutzplattform zu behandeln. Es muss dringend geklärt werden, wann Tierzucht zur Qualzucht und Tierhaltung zur Qualhaltung werden und damit unzulässig sind. Dementsprechend müssen verbindliche Parameter erarbeitet werden, an denen sich Züchter und Vollzugsbehörden sowohl im Bereich der Heimtier- als auch der Nutztierzucht orientieren können. Das Ausmaß zumutbarer Einschränkungen muss von züchtungs-und haltungsbedingten unzumutbaren Schädigungen, Schmerzen und Leiden abgegrenzt werden.
2. Zuchtlinien von Puten, Hühnern und Enten, die in einem hohen Prozentsatz zu Schmerzen, Leiden und/oder Schäden führen, wie sie bei betroffenen Tieren in evidenter Weise wiederholt nachgewiesen worden sind, müssen unter veterinärmedizinischen und tierethischen Aspekten bereits zum jetzigen Zeitpunkt verboten werden. Dazu zählen Züchtungen, die bei Legehennen Erkrankungen der Legeorgane und Osteoporose verursachen, Züchtungen, die bei Masthühnern und Puten zu Herz- und Kreislauferkrankungen, zu Bein-und Gelenkschäden, zu Entzündungen der Fußballen und zu Erkrankungen des Skelettsystems oder Muskelerkrankungen führen sowie Züchtungen, die bei Enten sogenannte „Rückenlieger“, Flugunfähigkeit, Gelenkschäden und/oder gravierende Verhaltensstörungen hervorrufen.“
Die Unterzeichner dieses Appells sind: Prof. Dr. Wolfgang Karnowsky (Vorsitzender des Vorstands der Hanns Rönn Stiftung), Mahi Klosterhalfen (Geschäftsführender Vorstand der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt), Prof. Dr. Holger Martens (Institut für Veterinär-Physiologie der FU Berlin), Dr. Madeleine Martin (Landestierschutzbeauftragte Hessen),Prof. Dr. Reinhard Merkel (Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie der Universität Hamburg und Mitglied des Deutschen Ethikrates, ich selbst, Ria Rehberg (2. Vorsitzende von Animal Equality) und Stefan Torges (Leiter von Sentience Politics Deutschland).
Eine solche Forderung nach Konkretisierung des §11b des Tierschutzgesetzes (und sinngemäß der EU-Gesetzgebung) ist nicht neu. Sie wurde bereits als Resolution des Arbeitskreises Tierschutz „Qualzuchten bei Nutztieren“ auf dem Deutschen Tierärztetag vom 9.-11.4.2003 in Magdeburg verabschiedet, aber bis zum heutigen Tage nicht realisiert.
In dem am 1.12.2009 in Kraft getretenen EU-Reformvertrag, der beachtlicherweise keinen direkten Gottesbezug kennt, heißt es in Artikel 13: „…tragen die Union und die Mitgliedsstaaten den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung.“ Auch hier fehlen allerdings konkrete Festlegungen in Bezug auf Qualzucht und Qualhaltung.
Das Antwortschreiben der Europäischen Kommission vom 17.6.2016 nach Übersendung des Berliner Appells war zwar in freundlichem Tonfall verfasst, in der Sache aber erwartungsgemäß wenig aussagekräftig. Von Seiten der Eurogroup for Animals des EU-Parlaments hat mir Herr Andreas Erler am 20.02.2017 mitgeteilt, dass mit neuen gesetzgeberischen Vorschlägen in dieser Legislaturperiode bis 2019 nicht zu rechnen ist.
Großartige Ergebnisse sind also – wie erwartet – nicht in Sicht. Immerhin ist die Verdeutlichung und Publikmachung der Begriffe Qualzucht und Qualhaltung für die Aufklärung der Bevölkerung und zur Feindbildcharakterisierung für zukünftige Kampagnen sicher hilfreich, um Menschen guten Willens das extreme Leiden unserer Nutztiere zu verdeutlichen.
Besonders freue ich mich jedoch, dass heute unter unseren Gästen auch Wissenschaftler sind, die ihr veterinärmedizinisches Fachwissen trotz des Lobbydrucks der Bauernverbände einbringen wollen, um den unhaltbaren, nicht „zukunftsfähigen“ Zuständen in der Intensivhaltung von Nutztieren entgegenzuwirken. Sie werden sich heute beim Abendessen mit Repräsentanten uns befreundeter Tierschutz- und Tierrechtsorganisationen zusammensetzen. Professionelles Wissen und medienwirksames Knowhow sollen den Berliner Appell begleiten und damit zu einem weiteren kleinen Schritt in Richtung Tierleidminderung werden.
Der Förderverein des Peter-Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung hat bisher erst sehr wenige Mitglieder. Wir würden uns darüber freuen, wenn unser Anliegen auch ohne Präsentation grausamer Tierbilder und ohne anrührende Tiergeschichten auf intellektueller Basis Unterstützung finden würde.